Die Rentner mit den flinken Fäusten

In den Katakomben unter dem Westfalenstadion treffen sich auch
lebende Legenden der 50er und 60er regelmäßig zum Training

Aus der Süddeutschen Zeitung Nr. 82 Dienstag, den 09.April 2002 (Von Andrea Kath)

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Dortmund - Dieter Schumann schwitzt aus allen Poren. Die riesige Hose schlackert um seine Knie, seine rote Trainingsjacke wölbt sich über den Bauch- ansatz. "Fast 100 Kilo", sagt er grinsend. "Das muss bewegt werden." Und so schlägt er weiter ein auf die kleine Brettbirne, die in Augenhöhe vor ihm hin und her baumelt. Im Rhythmus der schnellen Schläge hallt es durch den Raum, in dem es nach Schweiß, Linoleum und altem Leder riecht. Boxweltmeister Henry Maske und Max Schmeling lächeln im Neonlicht hinter dem verwaisten Boxring vom Plakat. Zweimal pro Woche trifft sich hier eine Gruppe von Boxveteranen zum Training in den Katakomben unter der Südtribüne des Westfalenstadions.

Während Dieter Schumann unablässig auf die Brettbirne haut, kämpft Lothar Kaukel gegen den Sandsack. Auch er ist ein leidenschaftlicher Boxer. Der 60 - Jährige kann sich allerdings kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal für einen Kampf in den Ring geklettert ist. Irgendwann Anfang der sechziger Jahre muss das gewesen sein, meint er stirnrunzelnd. Das Boxtraining gehört für ihn seit 45 Jahren zu seinem Leben. Auch als Rentner wollte er nicht darauf verzichten. Trainieren, Quatschen und "ein kleiner Scherz auf den Lippen", das sei doch immer was Feines. Und vor allem im Alter so wichtig. "Wir haben alle geboxt früher. Der eine mehr der andere weniger . Aber wir waren alle dabei, sagt Lothar Kaukel. " Wir sind alles alte Kämpfer hier."

Vorbild Willy Quatuor

Da ist Rolf Peters, der es in den fünfziger Jahren mehrmals zum Deutschen Meister und auf Platz zehn der Weltrangliste der Berufsboxer schaffte. Da ist Helmut Gerber, der zweimal die deutsche Polizeimeisterschaft in den sechziger Jahren gewann. Und da ist natürlich Willy Quatuor, die lebende Box- Legende. Der mehrfache Europameister scheiterte 1967 beim Weltmeisterschaftskampf in Tokio gegen Paul Takeshi Fuji in der vierten Runde. Das ärgert ihn noch immer. Doch bis heute ist er stolz darauf, nach Max Schmeling der erste anerkannte deutsche Herausforderer um einen Weltmeistertitel gewesen zu sein. "Sonst hat das keiner erreicht", sagt er. "Auch ein Bubi Scholz nicht."

Willy Quatuor ist ihr großes Vorbild. "Ich war ein Tänzer", sagt der 65-Jährige, der zum Schattenboxen sofort in den Ring steigt und nach wenigen Minuten schon am ganzen Körper schwitzt. "Daran erkennt man den Profi" , erklärt Rolf Gehring mit Kennermiene. "Unfassbar, wie schnell der war" , erinnert er sich an Quatuors aktive Zeit. "Ein exzellenter Techniker mit beidhändig guter Schlagkraft." Auch heute noch hüpft der ehemalige Leichtgewichtler graziös wie ein Reh durch den Ring und vollführt Luftkämpfe gegen einen imaginären Gegner.

Im Landesleistungszentrum des Westfälischen Amateur-Boxverbandes trainiert sonst der hoffnungsvolle Boxnachwuchs. Jetzt prügeln montags und donnerstags ergraute Herren auf Sandsack und Maisbirne ein. Hüpfen mit dem Seil fast bis zur Erschöpfung. Und ignorieren dabei hartnäckig künstliche Hüftgelenke oder andere Altersgebrechen. Wenn sie sich beim Schattenboxen warm machen, dann scheint es, als würden sie für den nächsten Boxkampf trainieren. Für die meisten ist der allerdings schon mehr als 40 Jahre her. Damals, als Dortmund in den fünfziger und sechziger Jahren noch westfälische Boxhochburg war und es hier über 20 Faustkämpfer – Vereine gab. Das ist Geschichte. Die Box - Rentner allerdings trainieren noch immer.

"Vom Boxen kommt man nicht mehr los", versucht es Dieter Schumann mit einer einfachen Erklärung. Boxen, das sei eben eine Sucht. Er hat als Amateur seinen letzten Kampf vor 34 Jahren bestritten und ist mit 58 einer der jüngsten hier. Dieter Schumann ist der Boxfunktionär in der Rentnerrunde. Er war es, der die alten Boxkämpfer aus verschiedenen Vereinen zusammengebracht hat. Heute sind es rund 15, die sich unter der Südtribüne regelmäßig treffen.

Auch Heinz Gieselmann dreht zweimal die Woche eisern seine Trainingsrunden. "Der macht immer so einen Lärm", sagt Dieter Schumann, während der ehemalige Westfalenmeister ächzend über das Springseil hüpft. Dann im Eiltempo seine Liegestütze absolviert. Und danach den Sandsack malträtiert. Mit lautem "Uff, uff" knallen die Fäuste des 57-Jährigen hart und kurz hintereinander aufs blaue Leder. Leichtfüßig tänzelt er vor dem baumelnden Sandsack hin und her. Schon nach kurzer Zeit klebt das Hemd schweißnass an Rücken und Bauch. Das soll ein Rentner sein? "Man will es nicht wahrhaben, dass man älter wird, aber das ist nun mal der Lauf", meint Heinz Gieselmann ein wenig atemlos, während er dem Sandsack wieder und wieder eine Rechte verpasst. So, als könne er damit auch gegen das Altern anboxen.

In den vergangenen Jahren ist ihr Kreis allmählich kleiner geworden. Emil Tomczak und Angelo Losego sind tot. Auch Kurt Windrisch ist vor einigen Jahren gestorben. " Wenn der aus dem Krankenhaus kam, dann stand der schon am seIben Tag hier wieder auf der Matte" , erinnert sich Werner Sperlich an den ehemaligen Sportsfreund. Noch mit über 80 hätte der nach dem Training einen perfekten Kopfstand zustande gebracht. "Superleute, aber leider ist das so im Leben, gegen höhere Gewalt kommt keiner an " , sagt Reinhard Gesk achselzuckend. Und übt mit seinen 64 Jahren weiter scheinbar ohne große Mühe unablässig Schlagkombinationen.

"Ich sollte kürzer treten, aber das kann ich nicht", gesteht sich denn auch der 68-Jährige Rolf Peters als der Älteste lachend ein. "Aber ich sage mir, solange ich mich wohl fühle, dann ist das schon richtig, was ich mache." Von ihm hängt ein altes Foto an der Pinnwand, schwarzweiße Erinnerungen an erfolgreiche Zeiten. Ein athletischer junger Mann in Kämpferpose. "Das war noch zu meiner aktiven Zeit, um '56 rum", erinnert er sich. Rolf Peters hat sich mit acht Jahren das erste Mal die Hände bandagiert. "Als Schüler habe ich mich ganz gerne geprügelt", verrät der pensionierte Polizist, der als großer Techniker bei seinen Gegnern dann später ziemlich gefürchtet war. "In keiner Sportart ist so viel Denken erforderlich wie beim Boxen" , erklärt der durchtrainierte Pensionär. "Denn wenn ich nicht denke, bekomme ich für das faule Denken Schläge. "Wie bei seinem letzten Kampf 1960, als ihm der Gegner in einer denkfaulen Sekunde mit einem gezielten Schlag das Jochbein zerschmetterte.

Doch von Verletzungsgefahr wollen sie hier eigentlich nichts wissen. Boxen sei doch viel ungefährlicher als zum Beispiel Fußballspielen, meint Peters. "Wenn sie einen Ball köpfen, da ist doch wesentlich mehr Druck hinter als hinter einem Schlag, dem sie ausweichen können." Sparring, das Boxen gegeneinander, ist für die alten Kämpfer trotzdem tabu. " Wir alten Leute dürfen das überhaupt nicht mehr", sagt Willy Fischer, der seit über 50 Jahren boxt und bei Hoesch gearbeitet hat. Er gesteht kleinlaut, dass der Arzt ihm wegen seines Herzschrittmachers das harte Boxtraining eigentlich verboten habe. "Ich erzähl schon, dass ich hier hingehe, aber ich erzähle dann, ich mache nur Seilchenspringen und Gymnastik", sagt der 67-Jährige, während er die kleine Maisbirne wieder und wieder traktiert. Als Kind plagte ihn Asthma und der Arzt verordnete ihm daraufhin Sport. Eigentlich, sagt Fischer, habe der Arzt dabei eher an Fußballspielen oder Ringen gedacht. "Aber Boxen gehört ja auch zum Sport" , meint der drahtige Rentner schelmisch und erzählt, dass er als Kind wegen seiner Krankheit scheu und zurückhaltend gewesen sei. Durch das Boxen sei er nicht nur selbstsicherer, sondern "ganz wunderbar geworden".

Ein Leben ohne Boxen kann sich auch Rolf Gehring nicht vorstellen. "Ich bin immer hier, damit die Atmosphäre stimmt", sagt Gehring, der seit zwei Jahren aus Gesundheitsgründen nicht mehr am Boxtraining teilnehmen darf und seither von der Holzbank aus den anderen zuschaut. Hin und wieder ruft er ein paar Verbesserungstipps für die allzu schlappe Rechte oder den unpräzisen Aufwärtshaken in den Raum. Er ist der einzige, von dem sie sich so etwas sagen lassen. "Der hat nie bei Wettkämpfen geboxt, hat aber trotzdem die meiste Ahnung", meint Dieter Schumann anerkennend. Der weißhaarige Gehring gilt als der Boxpapst und sei "die graue Eminenz", verrät Helmut Gerber. Er habe die alten Kämpen in all den Jahren zusammengehalten und auch aufgepasst, das niemand die eingeschworene Gemeinschaft störte. "Das eine oder andere Mal", erinnert sich Gehring, "habe ich auch schon mal Schläger wieder vor die Tür gesetzt." Denn auf die boxende Rentnertruppe ist er stolz. " Was wir hier haben, ist einzigartig in Deutschland."

Jahrelang war Rolf Gehring der Sparringspartner von Willy Quatuor. " Wenn ich dann in der zweiten Runde noch auf beiden Beinen stand, wusste Willy, dass er was falsch gemacht hatte", erzählt Gehring. Er wusste immer im voraus, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis ihn der gefürchtete Leberhaken traf. Es hat ihm nichts ausgemacht. Eigene Wettkämpfe bestreiten kam für ihn nie in Frage: "Ich war immer zu schlecht." Den Boxkameraden ist er bis heute treu geblieben. Als Rolf Gehring vor ein paar Jahren wegen einer Augenoperation im Krankenhaus lag, "standen sie am nächsten Tag mit Kind und Kegel und Geschenken am Bett". Das Wort Freundschaft kommt ihnen trotzdem eher zögerlich über die Lippen.

Trainieren wie früher

" Wir sind alle Individualisten", sagt Helmut Gerber. Jeder komme und gehe, wann er wolle. Auch einen Trainer gebe es nicht. "Wir trainieren hier, was wir früher in unseren Vereinen gelernt haben", sagt Gerber. "Die einen hatten gute Trainer, die anderen eben schlechtere." Auch ob sie früher Polizisten, Maurer oder Hoesch- Arbeiter waren, spielt keine Rolle. Was sie eint, ist ihre Liebe zum Boxen und der Takt der Trainingsuhr, die ihren Nachmittag in drei Minuten Schwitzen und eine Minute Plaudern einteilt. Wenn dann nach der letzten Runde das Pock Pock der Ballhandschuhe endgültig übergeht in ein auf- und abschwellendes Stimmengemurmel. Wenn Lothar Kaukel an das kühle Bierchen danach denkt. Und Dieter Schumann völlig durchgeschwitzt noch ein letztes Mal schlapp den Sandsack knufft. Spätestens dann fachsimpeln sie über die letzten Boxwettkämpfe ihrer Vereine.

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